Atmung und Stütze
Atmung und Stütze: Zwei eigenständige aber koordinierte Vorgänge beim Singen
Bezüglich Atmung und Stütze scheint in der Gesangswelt einige Verwirrung zu herrschen. Die meisten Sänger und auch viele Lehrer wissen nicht, dass es sich dabei um zwei eigenständige aber koordinierte Funktionen handelt.
1. Einatmung
Es ist für die Gesangsausbildung sehr wichtig zu lernen, worauf man sich bei der Atmung konzentrieren muss. Als Flagstad 1916 bei Dr. Gillis Bratt studierte, wurde sie das erste Mal die Bedeutung der Dehnung des unteren Rückens gelehrt. Diese scheint sich bei einer Sängerin leichter erreichen zu lassen als bei einem Sänger. Sowohl Männer als auch Frauen müssen das erlernen. Die Dehnung des unteren Rückens hilft sicherzustellen, dass der Atem tief genug in den Körper strömt, um eine tiefere Position des Zwerchfells zu erreichen. Das verhindert das Herausdrücken des Tones beim Einsatz. Es ist fast unmöglich einen ausgeglichenen Ton zu erzeugen, wenn der Atem nicht tief genug ist. Die Dehnung des unteren Rückens ermöglicht sekundär auch die Dehnung der unteren Bauchmuskulatur. Ich nutze in meinem Unterricht das Bild einer den Körper umgebenden »Atem-Röhre«. Das scheint besonders bei jungen Sängern zu funktionieren. Bei vielen männlichen Sängern, die Schwierigkeiten mit der Dehnung des unteren Rückens haben, hilft das »Loslassen der unteren Bauchmuskeln« besser. In jedem Fall müssen die Dehnung des unteren Rückens und die der Bauchmuskulatur zusammenwirken, um eine ausreichend tiefe Atmung zu erreichen.
Warum ist die Tiefatmung so wichtig? Diese Frage stellt sich beim Unterrichten und Studieren häufig. Die Bedeutung der Tiefatmung und der Dehnung der unteren Körperregionen liegt in der Verringerung des Atemdrucks unter dem Kehlkopf (subglottischer Druck). Durch die tiefere Kehlkopfposition wird so eine geöffnete Kehle und eine rundere Tonqualität erreicht. Gelangt der Atem an einen tiefen Punkt des Körpers, fühlt man sich besser »geerdet« und hat weniger die Tendenz, zuviel Luft durch die Stimmbänder zu drücken. Flagstad beschrieb ihr Gefühl beim Singen eines hohen Tones wie das »Einsinken in den Boden mit gebeugten Knien«. Damit sprach sie das Gesetz der Opposition an.
Das »Aus-Pusten«: wie funktioniert es und warum ist es so wichtig? Als Alan Lindquest 1917 von Caruso gecoacht wurde, lernte er die Bedeutung des »Heraus-Keuchens« oder »Aus-Pustens« kennen. Caruso erklärte, dass jeder Sänger den Umgang mit dem Atem genau verstehen müsse, um eine entspannte Tongebung zu erreichen. Oft werden Tenöre kritisiert, zu sehr auf die Stimme zu drücken. Dieses Drücken auf die Stimme hat seine Ursache in einem fehlenden Verständnis für den Umgang mit dem Atem. Die meisten Arien erzeugen im Verlauf eine Art Schneeball-Effekt; Phrase an Phrase und wenig Zeit zum Nachatmen. Genau dort ist das Aus-Pusten ein sehr wirksames Mittel. Die meisten Sänger holen mehr Luft, als für die Phrase benötigt wird. Wenn alte Atemluft in der Lunge verbleibt und neue für die nächste Phrase geholt wird, gibt es einen Atem-Stau.
Geschieht das häufiger, bekommt der Sänger das Gefühl des Erstickens. Der Sinn des AusPustens ist, die in der Lunge verbliebene verbrauchte Luft loszuwerden. Erstaunlicherweise füllt sich der Körper nach dem Aus-Pusten automatisch mit neuer Luft. Dieses effektive Mittel befreit den Sänger, in den dramatischen Passagen der Arie. Auch García spricht von diesem Phänomen. Wenn die Lehrer dieses Konzept in ihre Übungen einbezögen, wäre es für die Schüler von großem Nutzen.
2. Die Stütze
Welche Rolle spielt sie für den Vokalklang? Während meines Studiums bei ihm erklärte mir Alan Lindquest, die Stütze garantiere den Stimmbandschluss. Damit meinte er den perfekten Einsatz, den er 1938 von Jussi Björling gelernt hatte. Das beschreibt einen perfekten Verschluss der Stimmfalten im Augenblick des Aktivierens der Stütze. Die Stütze ist die Erweiterung des »Lach-oder-Stöhn-Muskel-Reflexes« in der unteren Bauch- und Rückenregion. (Das Stöhn-Gefühl sollte niemals in der Kehlregion sondern nur in den unteren Bereichen des Körpers auftreten. Die Kehlmuskulatur muss sich immer weich und geschmeidig anfühlen.) Die Hauptaufgabe der Stütze besteht darin, genug Atem-Kompression zum Aushalten eines innervierten und lebendigen nicht in der Kehle »sitzenden« Tones zu erzeugen. Lindquest pflegte zu sagen, bei einem ungestützten Ton ströme zuviel nicht benötigte Luft durch den Kehlkopf. Die Basis des gesunden Singens ist eine durch eine geschmeidige und flexible Stütze erreichte entspannte Tongebung. Ein sehr effektives Mittel beim Unterrichten ist, den Sänger lang gehaltene Zischlaute erzeugen zu lassen. Damit erreicht man eine exakte und ausgeglichene Stütze, die ausreichend Widerstand ohne Verspannung im Körper ermöglicht.
Eine weitere Funktion der Stütze
Eine weitere entscheidende Charakteristik der richtigen Stütze ist, was einige »die offene Kehle unterstützen« nennen. Wie bereits erwähnt, kann der Kehlkopf den Atemdruck nicht zurückhalten. Dieser Mechanismus ist nicht stark genug, um das zu schaffen. Man erreicht eine geöffnete Position der Kehle leichter, wenn der untere Teil des Körpers die Luft zurückhält. Sänger müssen verstehen, dass nur der Körper den Atemdruck zurückhält und nicht die Glottis (Stimmritze). Die Luft mit der Glottis halten zu wollen, kann sehr ungesund für die Kehle sein. Die richtige Stütze ermöglicht das Zurückhalten des Atemdrucks und einen perfekten Atemstrom im Kehlkopf.
Das beschreibt auch Lindquests Theorie der Dualität: zwei Opponenten, die zusammenwirken, um eine Balance zu erzeugen. Das richtige Unter-Stützen des Tones ist ein gleichzeitiges Zurück-Halten und Strömen-Lassen. Das kann durch den Lach-Reflex gefühlt und gelehrt werden. Das Lachen ist eines der nützlichsten Mittel zum Lehren der Stütze. Ich hatte viel Erfolg, indem ich ohne Unterbrechung vom Lachen zum Singen überging. So hatte der Sänger keine Zeit, sich auf das Singen vorzubereiten oder sich zu verspannen.
Wie nützlich ist ein »lehrendes Ohr«? Herr Lindquest war davon überzeugt, dass ein Sänger durch Gefühl und nicht durch Klang lernt. Natürlich müssen wir alle lernen, die richtige Tonhöhe zu singen. Es ist unmöglich den wirklichen Klang der eigenen Stimme zu hören. Das ist der Grund, warum ein »lehrendes Ohr« in der Gesangsausbildung unabdingbar ist. Einige Sänger halten zu stark in der Glottis und erzeugen damit Druck auf dem Kehlkopf. Andere wiederum singen mit einem verhauchten oder unfokussierten Ton. Weil Sänger unterschiedliche Vorgeschichten haben und mit verschiedenen Gesangskonzepten arbeiten, ist das Ohr des Lehrers extrem wertvoll.
Jeder Sänger hat individuelle und spezifische Bedürfnisse. Das ist der Grund, warum talentierte Lehrer nicht jeden Sänger auf die gleiche Art und Weise unterrichten. Wir alle brauchen diese führenden Expertenohren, die uns helfen durch Spiegeln zu lernen.
Alle Rechte am Text vorbehalten David L. Jones © 2000 http://www.voiceteacher.com/
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