Das Legato
Lösung von Problemen mit der gesungenen Sprache
Ich erinnere mich noch gut daran, wie einer meiner ersten Lehrer als junger Gesangstudent mir sagte: »singe diese Phrase legato.«. Meine Klavierlehrerin, Ann Dean Turk, wiederum hatte mir vom technischen Standpunkt aus gesehen richtig erklärt, wie ich das machen sollte. Von meinem Gesangslehrer jedoch bekam ich keinerlei technische Ratschläge. Während meiner gesamten Studienzeit bekam ich im Fach Gesang niemals eine Erklärung, wie ich das Legato im gesungenen Wort erreichen sollte.
In diesem Artikel werde ich versuchen das Geheimnis des Legato zu lüften und zu erklären, wie man diesen vergrabenen Schatz entdecken kann. Die meisten großen Sänger haben diesen Aspekt des Singens gemeistert.
Die Funktion der Atemstütze
In den 25 Jahren meiner Tätigkeit als Gesangslehrer, habe ich festgestellt, dass die meisten Sänger nichts über Atmung und Atemführung wissen (siehe auch die entsprechenden Artikel über Atem und Stütze). Das aber ist von entscheidender Bedeutung für das Legato. Noch einmal, alle Aspekte des Singens müssen in völliger Balance geschehen, um effektiv zu sein. Viele Sänger, mich eingeschlossen, gehen mit einzelnen Aspekten zu weit und suchen danach erneut nach Balance. Um legato zu singen, muss ein Sänger lernen, in den unteren Rücken zu atmen. Ich lasse Sänger häufig »die Wölbung des unteren Rückens in eine gerade Form atmen«. Das Über-Atmen wird den Sänger dazu verleiten, die Stimmbänder insbesondere bei den Konsonanten durch zu hohen Atemdruck zu überblasen. Viele nennen das »auf die Stimme drücken«; dabei wird zuviel Luft durch die Stimmbänder gedrückt. Über-Atmen wird jedes Legato stören. Manchmal nenne ich die Atemführung als Teil der Atemkontrolle auch das »Legato-Stöhnen«. Es ähnelt einem tiefen »hmm« (Summen), wobei sich beim Singen des Tones die untere Rückenmuskulatur (Lumbarmusk.) sanft nach außen dehnt. Dieses »Legato-Stöhnen« ist die Grundlage einer Legatolinie. Es vermindert das Überblasen der Konsonanten durch zu hohen Atemdruck und verlängert die Schwingungsphase der Vokale. Für das Legato ist es wichtig, dass der Kehlkopf wenig Luft langsam herauslässt.
Der andere für entspanntes Singen wichtige Atem-Aspekt ist Carusos »Heraus-pusten«, das nach dem Beenden einer Phrase die alte ungenutzte Luft aus den Lungen herauslässt. Dieses »Heraus-pusten« hilft dem Sänger, eine Erholungsphase in der Musik zu finden. Nach dieser Erholungsphase füllt sich der Körper von allein mit der benötigten Luft. So kann der Sänger die nächste Phrase mit der richtigen Körperanbindung beginnen.
Der Unterkiefer
Durch Beobachtung des Unterrichts von Alan Lindquest und seiner Schülerin Virginia Botkin lernte ich eine Menge über das Legato. Lindquest erklärte, die optimale Position des Unterkiefers für das Singen sei »hängend, leicht nach hinten-unten«; etwa so wie der Kiefer herunterhinge, wenn jemand mit dem Kopf nach hinten einschliefe. Der Kiefer geht niemals nach vorne. Sehr viele Sänger öffnen den Mund zu weit, bis der Kiefer nach vorne aus dem Gelenk herausspringt. Das ist für gesundes Singen völlig falsch. Dadurch wird Legatosingen unmöglich, da der Kiefer die Verbindung von Vokal und Konsonant so nicht herstellen kann. Versucht ein Sänger das Legato mit dieser extremen Kieferbewegung zu erreichen, entstehen »tote Punkte«, in denen die Stimmbänder nicht vibrieren. Zusätzlich tritt der Würge-Reflex am Zungengrund in Aktion. Dieser Würgereflex überträgt Druck direkt auf die Stimmbänder. Unter diesen Umständen können die Stimmbänder nicht frei schwingen. Befindet sich der Kiefer in der leicht nach hinten-unten gerichteten Position, werden die Übergänge zwischen Konsonant und Vokal geschmeidig. Die Schwingungsphasen zwischen Vokalen und Konsonanten werden verlängert: das pure Legato. Lindquest lehrte das durch die sanfte Kaubewegung des Unterkiefers. Er ließ mich vor dem Singen mehrmals kauen bevor er mich »i, o, i, o, i, o« singen ließ. Wenn es gelingt die sanfte Kaubewegung, ähnlich wie beim Kauen von Speisen, zu erreichen, wird die Spannung in der Kiefermuskulatur gelöst. Diese Übung erzeugt eine geschmeidige, sanfte und elastische Bewegung der Kiefermuskulatur. Oft habe ich Sänger unterrichtet, die entweder den Kiefer zusammenquetschten oder ihn mit Gewalt aufrissen. Keine dieser Bewegungen eignet sich für gesundes Singen oder Sprechen. Das sanfte Kauen ist die einzige Möglichkeit, um den Unterkiefer zu entspannen. Kleine Bewegungen des Kiefers erzeugen die als Grundlage für die Legatolinie benötigte Balance. Dabei ist es wichtig, dass die Kaubewegung nach hinten-unten geht und nicht nach vorne-unten.
Die Funktion der Zunge
Bereits in anderen Artikeln habe ich erklärt, dass Lindquest die »ng«- Position der Zunge lehrte, wie sie in den Wörtern singen oder hängen vorkommt. Diese ng-Position ist die Basis für Nasenresonanz im Legato. Ich habe herausgefunden, dass die ng-Position der Zunge als Ausgangslage mehr hohe Frequenzen in der Stimme erzeugt. Befindet sich hintere Teil der Zunge im Rachen, klingt die Stimme abgedunkelt und gedämpft. Damit kann keine wirkliche Resonanz entstehen.
William Vennard empfahl seinen Sängern in jeder Sprache so viel wie möglich wie im Italienischen zu artikulieren. Artikuliert man die Dentallaute »d«, »t« und »n« allein mit der Zunge, ermöglicht das dem Unterkiefer während der Artikulation leicht geöffnet zu bleiben. Gelingt es den Kiefer während der Artikulation in einer etwas tieferen Position zu erhalten, bleibt auch der akustische Raum im hinteren Bereich der Kehle geöffnet. Das verlängert wiederum die Schwingungszeit der Vokale. Wenn die »m«s mit leicht geöffnetem Kiefer artikuliert werden, erreicht man auch dort mehr Raum im hinteren Bereich der Kehle. Dieses Prinzip lässt sich auch auf die Explosivlaute »b« und »p« übertragen.
Das von Lindquest gelehrte sanfte Kauen diente dem Lösen von Spannungen im Kieferbereich. Die Artikulation sollte auf diese Art mit der Zungenspitze geschehen. Lindquests Lieblingsübung, um das zu erreichen, war das italienische Wort »dentale«. Der Unterkiefer bleibt geöffnet, wenn das »d« angestoßen wird. Das »nt« wird mit nur einer einzigen schnellen Bewegung der Zunge erzeugt. Ebenso das »l«. Diese Übung kann man mit einem leicht nach hinten-unten geöffneten Kiefer durchführen. Gelingt dies, artikuliert die Zunge unabhängig vom Unterkiefer. Einige Konsonanten erfordern eine Bewegung des Unterkiefers. So zum Beispiel jeder Konsonant oder jede Gruppe von Konsonanten im Englischen, in denen ein »s«, »f«, »z«, »v« oder »ch«-Laut vorkommt. Auch das »j« und im Italienischen das rollende »r«. Ich empfehle den Sängern, diese Konsonanten auf dem gleichen Atemstrom wie die Vokale nur kurz zu »streifen«. Die Bewegung des Unterkiefers muss mit dem sanften Kauen erzeugt werden, damit die Schwingungszeit der Vokale verlängert wird. Diese Bewegung muss schnell und entspannt vonstatten gehen. Das erfordert einige Übung. Erzeugt man den Konsonanten mit einem höheren Atemdruck als die Vokale, wird die Legato-Linie gestört. Häufig lasse ich Sänger italienische Silben auf einem Ton wiederholen. So zum Beispiel »da«, »me«, »ni«, »po«, »tu«, »la«, »be«, »da«. Zur Artikulation dieser Silben benötigt man keine Kieferbewegungen. Ich lasse Sänger diese Silben so lange üben, bis sie gelernt haben den Unterkiefer zu kontrollieren und ihn in der leicht nach hinten-unten gerichteten Position zu belassen. Schrittweise füge ich dann andere Klänge hinzu.
Das »ng« und seine Aufgabe
Kirsten Flagstad, VerbeugungKirsten Flagstad nannte das »ng« »den Silberfaden, der die Seele meiner Stimme ist«. Als Lindquest 1938 in Stockholm studierte traf er die dramatische Sopranistin Ingebjart Isene. Isene hatte Flagstad nach dem Tod ihres Lehrers Dr. Gillis Bratt unterrichtet. Eine von Dr. Bratts Grundübungen basierte auf dem »ng«. Sie ermöglicht ein leichtes Anheben des weichen Gaumens, ohne ihn zu überdehnen. Eines von Lindquests Zielen war das ng-Gefühl bei jedem Vokal (ohne Nasalität) zu erhalten. Das Resultat war gewaltige Kraft und Schönheit des Klanges zur gleichen Zeit: eine außergewöhnliche Dualität. Das »ng« ist im übrigen wichtig, weil es Sängern hilft, im gesungenen Wort das Legato zu erreichen.
Lindquest sagte oft zu mir: »Atme in der »ng«-Position und artikuliere in der »ng«-Position«. Das brachte mir das Gespür für das Klingeln (die hohen Frequenzen) in jedem Vokalklang, den ich erzeugte. Die Auswirkung, den das »ng« auf das Legato hat, ist erstaunlich. Das »ng« muss mit weiter Zungenwurzel gesungen werden. Ist die Zungenwurzel verengt, wird der Sänger eine verschlossene Kehle haben und somit sehr verkrampft singen. In diesem Fall ist die Übung kontraproduktiv. Erzeugt man das »ng« auf die richtige Art und Weise, hilft das auch, die Schwingungszeit der Vokale zu verlängern; somit kann die musikalische Phrase leichter gestaltet werden.
Wir haben vier Aspekte betrachtet, die, wenn sie gut koordiniert werden dabei helfen, ein schönes Legato zu erzeugen:
- Richtige Atmung und Atemführung;
- Passende Kieferbewegungen;
- Richtige Zungenposition und
- Das Flagstad »ng«.
Übungen zum Erlernen des Legato:
Einen Zischlaut mit starkem Widerstand an den Schneidezähnen erzeugen. Das vermittelt dem Sänger das Gefühl des Atemdruck-Zurückhaltens mit dem Körper, während ein kleiner kontrollierter Atemstrom durch den Kehlkopf fließt. Auch das leichte Vorwärtslehnen von der Hüfte ab und das gleichzeitige Erzeugen eines Stöhn-Geräusches vermittelt dem Sänger das Gefühl für die richtige Atemunterstützung.
Der entspannt hängende Unterkiefer. Kauübungen und Imitation der Kieferbewegungen beim Kauen von Nahrung. Von geschlossenen Vokalen zu den offenen. Zum Beispiel: »i, o, i, o, i, o« etc. oder »e, a, e, a, e, a« etc.
Benutzen Sie italienische Silben wie: »da, me, ni, po, tu, la, be, da«. Artikulieren Sie diese Silben mit hängendem Unterkiefer. Diese Position lässt sich leicht finden, indem man sich vorstellt man tränke aus einem großen Glas. Lassen Sie die Zunge die Artikulation übernehmen. Dann wird sich der Unterkiefer nicht verschließen. Das Ergebnis ist eine offene Kehle. Nebenbemerkung: mit einem leichten Anheben der Wangenmuskulatur unter den Augen, lässt sich der entspannt hängende Kiefer leichter erreichen.
Singen Sie ein »ng« und öffnen Sie allmählich zu einem offenen Vokal wie »o« oder »a«. Lassen Sie einen kleinen Atemstrom durch die Nase strömen, während Sie zum Vokal öffnen. Das Resultat ist ein Vokal mit guter Resonanz. Diese Resonanz vergrößert die Schwingungszeit des Vokals und verringert die Zeit für die Konsonanten.
Das Beherrschen des Legatosingens ist der Kern der Musikalität. Ein Sänger wird nie ein anerkannter Musiker, wenn er es nicht beherrscht. Wir artikulieren beim Singen nicht genauso wie beim Sprechen. Der Unterschied ist, dass der Unterkiefer beim Singen weniger aktiv ist, während die Zunge bei der Artikulation die Hauptaufgabe übernimmt. Durch Beobachtung vieler, vieler Sänger habe ich festgestellt, dass das Publikum emotional berührt wird, wenn ein Sänger ein schönes Legato singt. Das Publikum weiß nicht, was diese emotionale Reaktion hervorruft. Ein Beispiel, dessen Zeuge ich wurde, war Christa Ludwig in einem Konzert im Lincoln Center mit James Levine am Klavier. Die letzte Gruppe von Liedern war von G. Mahler. Ihr Legato zusammen mit ihrer hohen Musikalität ließ das Publikum »schweigend leiden«. Nachdem der letzte Ton des letzten Liedes verklungen war, blieb das Publikum absolut still. Diese Stille dauerte mindestens 20 Sekunden; es schien eine sehr lange Zeit zu sein. Ich kann nur sagen, dass diese Erlebnisse unsere Seele für einen Moment berühren. Mögen wir alle lernen, dass wirkliche Musikalität auf verschiedenen Fähigkeiten beruht. Eine der wichtigsten ist das Legato. Viel Erfolg beim Üben dieser Fähigkeit.
Fragen richten Sie bitte an Christian Halseband, mail@gesanglehrer.de (auf deutsch oder englisch) oder an David L. Jones, jones@voiceteacher.com (auf englisch).
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