Das Vibrato
Immer häufiger schreiben mir Sänger und fragen »Was ist das Vibrato und wie kann ich es in meiner Stimme entwickeln?«. Eine andere Frage lautet: »Gibt es bestimmte Sänger, die kein Vibrato haben? Kann man das Vibrato entwickeln?«. Diese Fragen möchte ich im folgenden ansprechen und denen Hilfestellung geben, die das Vibrato erklärt haben möchten. Zusätzlich möchte ich einige konkrete Ideen vermitteln, wie man auf eine Weise singen kann, die das Entstehen des Vibrato begünstigt.
Ich definiere das Vibrato als »leichte Tonhöhenveränderung, die sich aus der freien Schwingung der Stimmbänder ergibt«. Diese Schwingung entsteht durch: 1. Einen geöffneten Rachenraum (einige nennen das die geöffnete Kehle); 2. Einen gesunden Stimmbandschluss; ich betrachte das Vibrato als Ergebnis dieser beiden Gegensätze: offene Kehle und geschlossene Stimmbänder; 3. Ein anderer Hauptaspekt in Bezug auf das Vibrato ist der gleichmäßige sub-glottische Atemdruck. Dieser wird durch das Unsterstützungs-System reguliert. Daran sind die Bauchmuskeln, die Lendenmuskeln, die Zwischenrippenmuskeln und die Brustmuskeln beteiligt (vgl. die Artikel über Atem und Atemführung).
Der Umgebungsfaktor: Als Kind hatte ich immer ein Vibrato. Ob ich es durch stimmliche Freiheit oder Imitation erlangte weiß ich nicht. Meine ältere Schwester hatte eine exzellente Sopranstimme und sang zu Hause viel Oper und Operette. Als Knabensopran hatte ich viel Spaß daran, ihren Klang zu imitieren. Ich konnte ihn recht gut nachmachen. Später wurde ich in den Texas Boy’s Choir aufgenommen, da ich einen gesunden und gleichmäßigen Stimmklang hatte. Andere Kulturen bevorzugen ein anderes Vibrato. In einigen asiatischen Kulturen wird ein weites langsames Vibrato als schön empfunden. Viele französische Popsänger hingegen bevorzugen ein schnelleres festeres Vibrato. Dabei steht keine dieser Varianten für gesundes Singen.
Vibratoprobleme
1. Das »Wabern« der Stimme
Häufig hören wir Sänger mit einem weiten und langsamen Vibrato (vgl. den Artikel über das Wackeln der Stimme). Gründe dafür habe ich im Artikel »Das Wabern der Stimme« benannt. Ein weites Vibrato entsteht normalerweise durch fehlende Körperunterstützung und fehlenden Fokus im Ton. Es kann auch Folge eines schlechten Stimmbandschlusses sein. Alle diese Probleme erzeugen einen Klang, den unsere Kultur mit einer gealterten Stimme assoziiert. Ich habe festgestellt, dass bereits Sänger um die 20 ein Wabern haben können. Ich habe Schüler, die bereits über 70 sind und trotzdem keinerlei Anzeichen davon haben. Diese Sänger haben das, was in unserer Kultur als jugendlicher und, noch wichtiger, gesunder Stimmklang bezeichnet wird. Das Wabern ist eher eine Folge des falschen Gebrauchs der Stimme als ein Zeichen des Alters. Die Ursache eines solchen Stimmproblems kann im langen oder auch kurzen Gebrauch einer ungesunden Gesangstechnik liegen. Die Lösung ist recht einfach: Singen Sie Übungen, die die Körperunterstützung und den Fokus in der Stimme fördern. Das »ng« kann helfen den Fokus zu erreichen. Ausgehaltene Zischlaute können den Sänger lehren, welche Muskeln zum Zurückhalten des Atems oder Unterstützen des Tones benötigt werden.
2. Das zu schnelle Vibrato
Einige Sänger haben ein zu schnelles Vibrato. Das kann genauso störend sein wie das Wabern. Für gesundes Singen ist weder das Wabern noch das zu schnelle Vibrato der gewünschte Klang. Ein zu schnelles Vibrato kann durch einige stimmliche Phänomene hervorgerufen werden: 1. Druck auf dem Zungengrund. Dieser Druck kann von der Einatmung oder vom Einsatz des Tones herrühren. 2. Fehlender Stimmbandschluss: Viele Sänger wissen nicht, dass die Stimmbänder sich nach der Einatmung schließen müssen. Dieser fehlende Stimmbandschluss kann eine höhere Vibratogeschwindigkeit hervorrufen. Wenn die Stimmbänder nicht nah genug zueinander kommen, kann das Vibrato in Abhängigkeit von Größe und Form der Stimmbänder schneller werden. 3. Fehlende Körperunterstützung kann eine weitere Ursache dieses Stimmproblems sein. Die meisten von uns haben sowohl Sänger mit Vibratoproblemen gehört als auch Sänger mit einem gesunden Vibrato. Ein gleichmäßiges Vibrato ist einer der Hauptfaktoren für einen gesunden Vokalklang. Ein ungleichmäßiges Vibrato kann durch plötzliche Veränderung des subglottischen Atemdrucks entstehen. Das wiederum liegt in der fehlenden Körperunterstützung begründet. Die Stimmbänder entfernen sich dabei voneinander und schwingen unorganisch. Das Ergebnis ist ein häufig von Intonationsproblemen begleitetes ungleichmäßiges Vibrato. Das zu schnelle Vibrato ist weniger auffällig, wenn das Vibrato gleichmäßig ist.
3. Der »gerade« Ton
Sehr häufig kommen Sänger mit geradem Ton (kein Vibrato) zu mir. Einige von ihnen wissen nichts über das Vibrato und wie es entsteht. Viele kommen zu mir und möchten ihr Vibrato entwickeln, weil sie festgestellt haben, dass ihrer Stimme etwas fehlt. In den 25 Jahren, in denen ich unterrichte, war noch nicht ein Sänger in meinem Studio, der kein gesundes Vibrato entwickeln konnte.
Einige Sänger mit geradem Ton hatten in Chören gesungen, in denen der Chorleiter einen geraden Ton verlangte. Das kann ein schädlicher Umstand sein. Das Singen mit geradem Ton ist extrem ungesund für die Stimme. Durch diese Art des Singens können Stimmbandknoten entstehen, weil zu viel Druck in der Glottis (Stimmritze) gehalten wird, um das Vibrato im Klang zu verhindern. Die chorische Mischung des Klanges wird durch Vokal- und Akustikausgleich geschaffen, nicht durch das Quetschen der Stimme, um einen geraden Ton zu erreichen. Der entsprechende Ausgleich von Vokalen und Akustik kann eine schöne Mischung der Stimmen erzeugen. Das habe ich selbst erfahren, als elf meiner Sänger das »Let Your Garden Grow« aus »Candide« in Berlin als Finale eines Konzertes zusammen mit einem Männerchor sangen. Der Vokalklang dieser elf mit dem »ng-Klingeln« ausgebildeten Sänger war erstaunlich. Weil diese Sänger mit Vokal- und Resonanzausgleich ausgebildet wurden, war das Ergebnis ein schön gemischter voller Klang. Einige Dirigenten deutscher Opernhäuser fragten mich nach dem Konzert nach der Ausbildung dieser Sänger.
Die meisten Sänger, die mit geradem Ton singen, können den Stimmbandschluss zu Beginn ihrer Ausbildung nicht anwenden, weil sie zu lange Zeit zuviel Druck mit den Stimmbändern zurückgehalten haben. Ich habe festgestellt, dass das Vibrato in die Stimme kommt, wenn der Sänger Balance in der Unterstützungsmuskulatur erreicht hat und das Gefühl des »u« im Rachen erhält. Das italienische »u« ist ein wichtiger Teil der Sänger-Ausbildung, um das Vibrato zu erreichen. Der »u« Vokal ermöglicht die gesunde Annäherung der Stimmbänder ohne Druck in der Glottis. Daher lässt sich verstehen, warum das »u« in der italienischen Gesangsschule so eine wichtige Rolle spielt. Das »u« muss ohne das Zurückziehen des Zungenrückens mit einem hohen und weiten Gaumensegel gesungen werden, um akustisch effizient zu sein. Die Folge ist ein schöner Klang und Resonanz.
4. Zwerchfellvibrato
Das Zwerchfellvibrato entsteht durch das Pulsieren des Zwerchfells während eines ausgehaltenen Tones, um ein falsches Vibrato zu erzeugen. Opernsänger gewöhnen sich dieses Verhalten an, um eine Art Vibrato zu bekommen, wenn ansonsten keines vorhanden ist. Das ist ein großer Fehler. Das Zwerchfellvibrato ist schwer zu korrigieren, da die untere Bauchmuskulatur sich sehr gut an das pulsierende Gefühl gewöhnt hat. Das kann durch lange harte Arbeit korrigiert werden. Lösung: Benutzen sie den ausgehaltenen Zischlaut und merken sie sich, die Sinneswahrnehmungen im Körper. Singen sie dann einen Ton indem sie das selbe Körpergefühl beibehalten. Das wird das Zwerchfell stabilisieren.
Der Triller
In einigen Fällen lässt sich das Vibrato durch einen Triller wecken. Ein Triller ist ein kultiviertes Jodeln mit den Stimmbändern. Das mag einfach oder nicht so einfach für den Sänger sein. Einige sprechen darauf an und lockern die Stimmbänder. Dadurch wird das Entstehen des Vibrato ermöglicht.
Ein gesundes Vibrato lässt sich in recht kurzer Zeit erreichen. Der Zeitfaktor hängt von der Geist-Körper-Koordination des Sängers ab. Einige Sänger haben eine bessere Anbindung an ihren Körper als andere. Kürzlich war ein Bariton mit einer großen Stimme bei mir, bei dem sich das Vibrato nach nur drei Stunden entwickelte. Es waren viele andere bei mir, bei denen das viel länger dauerte, weil sie so lange mit geradem Ton gesungen hatten. Auf jeden Fall kann jeder Sänger ein ausgeglichenes Vibrato mit Konzentration und der richtigen Anleitung erreichen, wenn er sich auf den Prozess und weniger auf das Ergebnis konzentriert. Geduld ist ein sehr wichtiger Aspekt in Ausbildung und Ausbalancierung der Singstimme.
Fragen richten Sie bitte an Christian Halseband, mail@gesanglehrer.de (auf deutsch oder englisch) oder an David L. Jones, jones@voiceteacher.com (auf englisch).
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