Das Zittern von Unterkiefer und Zunge
Die meisten von uns haben irgendwann schon einmal einen Sänger mit wackelndem Unterkiefer und/oder zitternder Zunge gesehen. Es tritt immer wieder in Erscheinung: im Fernsehen, auf der Bühne und manchmal im Film. Dabei scheint es auch keinen Unterschied zwischen klassischen und Pop-Sängern zu geben. Es ist eine verbreitete Unart in beiden Sängerkategorien und kann chronisch werden. Wenn man dieses Problem nicht löst, kann es einen Sänger sprichwörtlich die Stimme kosten.
Kürzlich wurde mir per E-Mail folgende Frage gestellt: »Was erzeugt das Zittern in Unterkiefer und Zunge? Was kann man tun, um das zu vermeiden?«. Diese Frage wird hauptsächlich von klassischen Sängern gestellt, die sich mit Recht um ihre stimmliche Zukunft sorgen.
Das Ende einer viel versprechenden Karriere: Wenn ich in meinem Gedächtnis nach Sängern forsche, die unter diesem Problem gelitten haben, fällt mir eine Sopranistin ein, die eine große Stimme hatte und deren Karriere zu Anfang von Luciano Pavarotti unterstützt worden war. Sie hat eine wunderschöne Stimme mit einem vollen und schönen Timbre. Diese Sängerin litt jedoch chronisch unter zitterndem Unterkiefer und zitternder Zunge. Der Fokus ihrer Stimme ging verloren. Mit der Zeit entwickelte sich ein großes und weites Vibrato (Wabern) in ihrer Stimme. Tragischerweise kann diese Sängerin, die eine große Karriere hatte, kaum noch singen. Der Hauptgrund dafür ist das Zittern des Unterkiefers und der Zunge.
Der Einfluss des Atemdrucks
Viele Sänger wissen nicht, wie sie atmen und stützen sollen (vgl. die Artikel Atmung und Stütze). Häufig geht die Atmung und Unterstützung nicht tief genug in den Körper. Das wiederum erzeugt Probleme mit dem Einsatz des Tones (vgl. Artikel über Einsatz). Wenn der Atemdruck im Kehlkopf zu hoch ist, entsteht Spannung in den Schultern, dem Nacken, dem Unterkiefer und der Zunge. Halt ein Sänger hält den Atemdruck nicht mit der Muskulatur des Unterleibs zurück, muss die Zungenwurzel den Atemdruck kontrollieren. Wenn jetzt das Vibrato entsteht, beginnt die Zunge unkontrollierbar zu zittern. Das Ergebnis ist ein Wackeln oder weites Vibrato. Wenn der Sänger jetzt stärker auf den Atem drückt, um den Klang zu vergrößern, wird die Stimme in Wirklichkeit kleiner. Es gibt keine echte Resonanz in der Stimme.
1 Der Einfluss des schlechten Einsatzes
Eine andere Ursache ist der schlechte Einsatz. Kommen die Stimmbänder nach der Einatmung nicht richtig zusammen, versuchen Unterkiefer und Zunge den Klang zu steuern. Weil beim Einsatz jetzt zu viel Atemdruck durch die Stimmbänder geht, versucht die Zunge den Atemdruck zurückzuhalten und die Stimmbänder zum Schließen zu zwingen (vgl. Artikel uber Stimmbandschluss). Wegen des Fehlens eines guten Stimmbandschlusses beginnt die Stimme wieder zu wackeln. Die Stimme wird jetzt mehr durch die Kehle als durch den Körper unterstutzt.
2 Der Einfluss der schlechten Haltung
Oft arbeite ich an der Körperhaltung der Sänger, um die Stimmbalance her-zustellen. Verspannt ein Sänger den Nacken und schiebt den Kopf auch nur ein wenig nach vorne, steigt der Kehlkopf nach oben. Daraufhin kommt auch der Unterkiefer nach vorne und macht es den Stimmbändern unmöglich, sich einander anzunähern. Und wieder entsteht eine Situation, die das Zittern in Unterkiefer und Zunge begünstigt. Wenn ein Sänger keine gute Haltung hat, können die Rückenmuskeln den Atemdruck nicht zurückhalten.
3 Der Effekt einer schlechten Zungenposition
Alan Lindquest ließ mich in der Ng-Position atmen und artikulieren. Er sprach davon, die Ng-Position der Zunge so viel wie möglich zu nutzen. Da-durch kommt die Zungenwurzel aus der Rachenhöhle und ermöglicht so die gesunde Resonanz. Die Zunge sollte leicht gewölbt sein und die Zungenränder die hinteren oberen Backenzähne leicht berühren. Die Zungenspitze sollte sich zumindest hinter den unteren Schneidezähnen wenn nicht sogar unterhalb des Zahnfleisches befinden. Hält ein Sänger seine Zunge flach, ist ein Mangel an Resonanz oder ein verschluckter Klang das Ergebnis. Eine Gesangstechnik, die sich der flach gehaltenen Zunge bedient, erzeugt chronische Stimm probleme. Die Stanley-Methode ist von dieser Art. Viele Sänger wurden durch diese ungesunde Art des Singens dauerhaft geschädigt. Das Ergebnis dieser Gesangstechnik ist der Verlust der Höhe, Verlust von Resonanz und Druck auf den Stimmbändern. Mit der Zeit wird diese Methode die Stimme zerstören. Sie kann Probleme hervorrufen wie Schreiknötchen, Stimmblutungen und Stimmpolypen (vgl. den Artikel über zerstörte Stimmen). Ich habe mit Sängern gearbeitet, die durch diese schreckliche Technik dauerhaften Schaden davongetragen haben.
4 Der Effekt der hohen Kehlkopfposition
Singt ein Sänger mit einer hohen Kehlkopfposition, hat das diverse negative Folgen. Die Stimmbänder schließen nicht mehr richtig, der Unterkiefer wird nach vorne geschoben und der weiche Gaumen hängt herunter. Das erzeugt eine Belting-Position ( »belten«: im Musicaltheater übliche Singweise, bei der die Bruststimme bis in die höchste Lage getrieben wird; der Übers.). Diese ist nicht nur bei den Musikcalsängern gebräuchlich. Wir alle haben sicherlich schon einmal klassische Belter bzw. Sänger gehört, die ohne Absicherung in der Kehle gesungen haben. Unglücklicherweise habe ich auch schon Erfahrungen mit Sängern machen mussen, die eine Gesangstechnik mit hochgestelltem Kehlkopf gelernt hatten, um die Stimme leichter und heller zu machen. Diese Herangehensweise erzeugt erst dann Probleme, wenn die Stimme des Sängers reift. Jeder Gesangslehrer muss einsehen, wie wichtig ein leicht abgesenkter Kehlkopf ist. Dieses Absenken sollte bei der Einatmung geschehen.
5 Die Clavicular-Atmung (Hochatmung) und ihre negativen Folgen
Ein weiteres chronisches Problem, das das Zittern des Unterkiefers und der Zunge begünstigt, stellt das Hochatmen dar. Ein zu hoher Atem erzeugt einen zu hohen Atemdruck unter dem Kehlkopf und begünstigt damit das Zittern von Unterkiefer und Zunge. Atmet ein Sänger in die obere Brustregion, wird er daraufhin das Brustbein herunter drücken, um den Atem zu steuern. Auch das ist eine ungesunde Praxis, die die Stimmbänder »überbläst«. Unterkiefer und Zunge reagieren auf einen zu hohen Atemdruck häufig mit unkontrollierbarem Zittern.
6 Lösungen für das Problem des Zitterns von Unterkiefer und Zunge
Der Hauptpunkt dieses Artikels ist Sängern, die unter dieser Unterkiefer-Zungen-Störung leiden, Lösungen anzubieten. Die folgenden Übungen haben sich in meinem New Yorker Studio bewährt.
Stell Dich mit Deinem Körper an eine Wand und atme in den unteren Rücken, indem Du ihn leicht in die Wand drückst. Das wird helfen, die Tiefatmung zur Gewohnheit zu machen (vgl. den Artikel über Atmung und Atemführung). Beim Singen sollten sich die Rückenmuskeln weiter in die Wand hinter dem Sänger ausdehnen. Dadurch lernt der Sänger, den Ton auf dem Körper und nicht in der Kehle zu beginnen.
Eine andere Moglichkeit, den Atem zu trainieren, ist sich mit angewinkelten Knien auf den Boden zu legen. Atme in den Boden. Während Du kleine Übungen singst, drücke den Rücken weiter in den Boden, um dem Atemdruck mit dem Körper zu widerstehen. Lindquest nannte dies, den Atemdruck mit dem Körper zurückhalten.
Singe absteigende Fünfton-Skalen auf Ng, um den fokussierten Klang zu fühlen. Nutze die Vorstellung, dass Du das Ng mit der Mitte der Zunge und nicht mit dem hinteren Teil der Zunge erzeugst. Die Wölbung in der Zunge ist für einen gesunden Ng-Klang sehr wichtig. Das hindert die Zunge daran, sich zurück in die Rachenhöhle zu ziehen.
Spreche ah, ng, ah, ng, ah, ng, um das Klingeln uber dem A-Vokal zu spüren. Spüre wie sich der weiche Gaumen von der Zunge nach oben hebt und nicht die Zunge in die Kehle herunterkracht. Diese Übung gibt Dir ein Gefühl für die hohen Obertöne uber dem A-Vokal. Das Klingeln in der Stimme zu etablieren ist unverzichtbar, um das Zittern von Unterkiefer und Zunge zu vermeiden.
Summe mit der Zunge zwischen den Lippen. Nutze dazu eine absteigende Fünfton-Skala. Fühle wie sich die Kehle hinter dem Summen ausdehnt. Singe daraufhin die fünf Vokale und erspüre die Dehnung hinter der Zunge und im weichen Gaumen. Das wird helfen, die Ideen von Klingeln und Raum zusammenzubringen. Auch das ist ein Muss, um einen ausgeglichenen Ton zu ermöglichen. Die Zunge kann mit falscher Öffnung in der Kehle verwechselt werden. Die Unabhängigkeit von der Zunge und der Dehnung in der Kehle ist für gesundes Singen von existenzieller Bedeutung.
Versuche immer das Gefühl für das Ng-Flirren in den Wangenknochen zu spüren. Insbesondere wenn Du von einem Summklang zu einem Vokal öffnest. Das wird helfen zu fühlen, dass die Stimme oben im Kopf vibrieren muss, nicht tief in der Kehle. Wir öffnen die Kehle da-mit der Klang aus den Wangenknochen reflektieren kann. Diese Dualitat muss vorhanden sein, um ein ausgeglichenes Singen zu ermöglichen. Es ist nahe liegend, dass wir die tiefe Öffnung und den hohen weichen Gaumen zusammen benötigen. Der weiche Gaumen muss angehoben sein, damit der Ton nicht nasal klingt. Nasalität ist das Ergebnis eines herunter hängenden weichen Gaumens. Nasenresonanz wiederum ist ein Aspekt gesunden Singens, der durch einen hohen weichen Gaumen erreicht wird.
Mache sanfte Kauübungen, die von einem geschlossenen Vokal zu einem offenen wechseln. Z.B.: i, o, i, o, i. Stelle sicher, dass der Unterkiefer nicht mit Gewalt bewegt wird, sondern so funktioniert wie beim Kauen von Speisen. Das hilft Gefühl für einen entspannten Unterkiefer zu bekommen. Viele Sänger zwingen ihren Unterkiefer nach unten. Das wiederum erzeugt einen Würgereflex an der Zungenwurzel. Das ist eine ungesunde Praxis. Sie erzeugt ebenso viel Spannung beim Singen wie ein fest verschlossener Kiefer.
Spreche das italienische Wort »dentale«. Stelle sicher, dass Du Dentalkonsonanten (direkt an den Schneidezahnen artikuliert; d. Übers.) benutzt, was wiederum die Zunge vom Unterkiefer loslöst. Für d, nt und l muss die Zungenspitze bis zum harten Gaumen direkt hinter den oberen Schneidezähnen nach oben kommen. Der Unterkiefer sollte in einer Position verbleiben. Das bringt die Zunge dazu, unabhängig vom Unterkiefer zu funktionieren und somit die »Ehe der Spannung« zwischen den beiden zu durchbrechen. Ich habe herausgefunden, dass Sänger Schwierigkeiten haben, die Zungen- und Unterkieferspannungen zu trennen. Es ist jedoch nötig, damit gesunde Resonanz entstehen kann. Mache diese Übung in der Mittellage mit einem nur leicht geöffneten Mund, damit das Klingeln entstehen kann.
Spreche den Text eines Liedes oder einer Arie mit einer »Shakespeare-Stimme« mit dem Klang eines Shakespeare-Schauspielers. Ich habe herausgefunden, dass Sänger dadurch Raum und Klingeln gleichzeitig erfahren können. Wenn das Klingeln ohne einen zu hohen Atemdruck erreicht wird, wird das Zittern in Unterkiefer und Zunge verschwinden.
Übe jeden Tag,die stimmliche Ausgewogenheit zu erreichen; tiefe und hohe Resonanzen arbeiten zusammen. Wenn wir unsere Sinneswahrnehmungen nicht jeden Tag wiederholen, ist Konsistenz im Singen nicht zu erreichen. Denke daran, dass zitternder Unterkiefer und Zunge hauptsächlich durch fehlenden Fokus oder Ng beim Singen hervorgerufen werden. Wir müssen täglich üben, um diese Sinneswahrnehmungen zu finden. Denke daran, dass wir mehr durch Fühlen als durch Hören auf den Klang singen.
Fragen richten Sie bitte an Christian Halseband, mail@gesanglehrer.de (auf deutsch oder englisch) oder an David L. Jones, jones@voiceteacher.com (auf englisch).
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Autorisierte Ubersetzung von Christian Halseband © 2003 https://gesanglehrer.de/wp/