Die Atemführung
Einmal bat Alan Lindquest mich, einen Fingerhut voll Atemluft in den unteren Rücken zu atmen. Es ist wichtig zu verstehen, was das heißt. Die meisten Sänger nehmen zu viel Atem in den Brustkorb und pusten das meiste davon während der ersten Hälfte einer Phrase wieder heraus. Enrico Caruso erklärte Lindquest 1917, dass er »nicht mehr Atem zum Singen benötige als für eine zwanglose Unterhaltung mit einem Freund«.
Die Einatmung muss sich anfühlen, als geschehe sie unterhalb der Rippen; nicht dahinter. Weit gedehnte Rippen sind notwendig, damit der Atemdruck nicht zu hoch wird. Jedoch sollte der Brustkorb nicht zu stark durch eine übervolle Lunge überdehnt werden. Ich erinnere eine Übung, in der Lindquest mich aufforderte ohne Bewegung des Brustkorbes zu hecheln. Für viele ist das sehr schwierig, aber mit etwas Übung läßt es sich vollbringen.
Das Atmen in den unteren Rücken wird von vielen als schwierig empfunden, zumal das zu starke Einatmen hinter den Rippen es geradezu unmöglich macht. Man kann die Tiefatmung durch das Sitzen auf einem Stuhl mit gerader Lehne oder an der Wand üben. Im Stehen muss man einen Fuß vor den anderen setzen und das Gewicht auf die Fußballen verlagern. Das ermöglicht eine Rundung im unteren Rücken, die die Tiefatmung erleichtert. John Wilcox empfahl, sich bäuchlings auf den Boden zu legen, und den Atem im unteren Rücken zu spüren.
Was ist der Unterschied zwischen Atmung und »Stütze« (Im Englischen lautet der Begriff »support« also soviel wie »Unterstützung«, was der Funktion meines Erachtens eher entspricht, als das in Deutschland gebräuchliche Wort »Stütze«, das eine gewisse Statik suggeriert. [Anmerkung des Übersetzers.]) Hat man nicht zuviel eingeatmet, kann man die »Stöhn-Muskeln« (untere Lendenmuskulatur) beim Einsetzen des Tones dehnen. Singt der Sänger in der hohen Lage, können sich diese Muskeln noch weiter dehnen. Der Körper sollte die Weite des höchsten Tones auch in den tieferen Lagen aufrechterhalten. Das hält den Atemdruck zurück, damit der Kehlkopf in seiner tiefen Position verbleibt. (Durch den Kehlkopf muss ein kleiner Atemstrom mit konstantem Druck fließen.) Die Brustmuskulatur sollte stabil bleiben, nachdem der kurze aber tiefe Singatem genommen wurde. Diese Muskeln halten zusammen mit der Zwischenrippen-Muskulatur die »wilde« Luft oder auch den zu hohen Atemdruck zurück. Diese drei Muskelgruppen (Lenden-, Brust- und Zwischenrippenmuskulatur) ermöglichen uns das Singen mit komprimierter Luft anstatt mit losgelassener Luft. Lamperti sagte, dass die Stimmbänder »sich die Luft nehmen, die sie benötigen«, um den Einsatz des Tones zu erzeugen. Lindquest lehrte den perfekten Einsatz. Er bezeichnete damit den Stimmbandschluß nach dem Einatmen. Meiner Erfahrung nach benutzen viele Sänger einen Luftstoß, um den Ton zu beginnen. Das erzeugt entweder einen verhauchten oder einen geschobenen Klang. Man darf den perfekten Stimmbandschluß nicht übertreiben. Das würde einen Glottisschlag erzeugen, der sich schädlich auf die Stimmbänder auswirkte. Durch stimmhaftes »s« oder »w« kann das vermieden werden.
Zum Singen benötigt man nur sehr wenig Luft. Lindquest sagte »trinke die Stimme anstatt Luft durch den Kehlkopf zu drücken«. Zum Singen sollte nur ein kleiner Atemstrom (mit konstantem Druck) genutzt werden. Dieser kleine Strom kann durch den Gebrauch von »ng«, stimmhaftem »w« oder »Lippen-R« und »Zungen-R« trainiert werden. Der kleine Atemstrom muss auch auf die Sprachfunktion Anwendung finden. Viele Sänger haben Probleme, von den Vokalisen zum Repertoire überzugehen. Ein Hauptgrund dafür ist, dass Sänger den Atemdruck zwischen den Konsonanten und den Vokalen verändern. Der Kehlkopf muss zur Phonation von einigen Konsonanten in eine höhere Position wechseln. Beim Singen auf diesem kleinen Atemstrom senkt sich der Kehlkopf nach den Konsonanten wieder ab. Um ein Legato zu erreichen ist dieses Heruntergehen des Kehlkopfes unverzichtbar. Das Legato entsteht, wenn mit konstantem Atemdruck und der richtigen Nasenresonanz gesungen wird. Der Sänger wird so einen schönen frei schwingenden Ton erfahren.
Herr Lindquest hat den »geteilten Atem« gelehrt; die erste Hälfte durch die Nase, was den weichen Gaumen anhebt, und die zweite Hälfte durch den Mund, was den Kehlkopf nach unten bringt. Er sagte, man solle das als Übungsatem benutzen, um den Reflex des unteren Rückens und die Vergrößerung des Resonanzraumes zu trainieren.
Notiz: Interview 1977: Martha Rosacker: »Herr Lindquest, was ist Ihre Unterrichtsphilosophie?« Alan Lindquest: »Sie inspirieren die jeweilige Person. Singen ist mehr als nur die Stimme zu bilden. Singen ist die Stimme der Seele, und der Geist der Person muss sich in seinem Singen widerspiegeln.«
Alle Rechte am Text vorbehalten David L. Jones © 2000 http://www.voiceteacher.com/
Autorisierte Ubersetzung von Christian Halseband © 2003 https://gesanglehrer.de/wp/