Der Einsatz
Diese Schule hat viele weltberühmte Sänger hervorgebracht. Unter anderem Kirsten Flagstad, Jussi Björling, Set Svanholm, Karin Branzell und, in neuerer Zeit Birgit Nilsson. Eine der wichtigsten Charakteristiken, die diese Sänger vor vielen anderen auszeichnet, ist ihre Fähigkeit einen Ton mit perfektem Stimmsitz auf jeder Tonhöhe zu beginnen. Alan Linquest nannte das den »perfekten Einsatz«. William Vennard bezog sich darauf als »imaginäres ‚h’« und García nannte es »Coup de Glotte«.
In meinem Unterricht habe ich erfahren, dass es schwierig ist, den perfekten Einsatz zu erklären. In einer möglichen Erklärung spreche ich von sich sofort nach der Einatmung sanft schließenden Stimmbändern. Zu diesem Zeitpunkt beginnen die Stimmbänder zu vibrieren, während sich die Unterstützungs-Muskulatur im unteren Teil des Körpers exakt mit Beginn der Phonation dehnt. Oft habe ich Sänger gebeten, den Ton mit dem Gefühl eines leichten Stöhnens in der unteren Lenden-Muskulatur einzusetzen. Dadurch erreicht man den perfekten Einsatz mit voller Unterstützung des Körpers. Während seines Studiums in Stockholm 1938 freundete sich Alan Linquest mit Jussi Björling an. Sie verwendeten damals viel Zeit darauf, über verschiedene gesangstechnische Übungen zu diskutieren. Björling erklärte Lindquest, dass es ihn etwa vier Jahre kostete, den perfekten Einsatz zu meistern.
Dieser perfekte Einsatz darf nicht mit einem Glottis-Schlag verwechselt werden. Es ist sehr wichtig, zwischen den beiden zu differenzieren. Der Glottis-Schlag ist ein Vorgang, bei dem die Stimmbänder mit zu hohem Druck in der Glottis zusammengehalten werden (ein übermäßiger Verschluss der Stimmbänder), um dann mit einer Explosion des Atemdrucks auseinandergedrückt zu werden. Das ist sehr ungesund für die Stimme. Der perfekte Einsatz dagegen ist ein Vorgang, bei dem die Stimmbänder sich nach der Einatmung sanft schließen. Aus entspannter Lage heraus setzt dann beim Beginn des Tones die Vibration zusammen mit der Dehnung des Körpers ein. Alan Lindquest nannte das »Versiegeln der Stimmbänder«. Der Atem wird dabei sofort nach der Einatmung komprimiert. Das verhindert einen Glottis-Schlag.
Was ist der Vorteil des perfekten Einsatzes? Es gibt viele Gründe, diesen Ablauf gut zu üben. Er führt zu einem gesunden Stimmklang mit Resonanz. Durch den komprimierten sub-glottischen Atemdruck ist das Vibrieren der Stimmbänder eher mit dem Gefühl eines »Atemkissens« als mit dem eines forcierten Atemdrucks verbunden. Dadurch bleibt auch der Klangraum in der Kehle geöffnet.
Es ist sehr gefährlich für einen Sänger den Stimmband-Schluss zu übertreiben. Das kann zu Stimmermüdung führen und den Sänger zu einer ungesunden Gesangstechnik verleiten. Joseph Hislop, einer von Björlings Lehrern, musste diesen ständig ermahnen dieses Prinzip nicht zu übertreiben. Die Schulung des gesunden Stimmbandschlusses in Kombination mit der richtigen Nasen-Resonanz führt hier zum Erfolg. Eine gesunde Balance ist aus technischer Sicht von Vorteil. Das Extrem kann jedoch, wie in den meisten Gesangskonzepten, gesundheitsschädlich sein. Den Atemstrom reguliert das Unterstützungssystem des Körpers, nicht die Glottis.
In meiner Unterrichtstätigkeit habe ich viele erfahrene Sänger mit langer Gesangspraxis unterrichtet, die große Stimmprobleme hatten, weil sie dieses Prinzip nicht berücksichtigten. Es stellte sich heraus, dass sie vielfach nach dem Einatmen keinen Stimmbandschluss hatten. Bereits nach kurzer Zeit von Stimmbandschluss-Übungen empfanden sie ihre Stimme als freier und jünger. Vibratoprobleme verschwanden schnell und die Stimme klang wieder gesund mit einem ausgeglichenen Vibrato. Auch der Registerausgleich (Lagenausgleich) entwickelte sich schnell.
Ein Beispiel
Ein gutes Beispiel für die Wiederherstellung der Stimmgesundheit durch dieses Prinzip ist die junge schwedische lyrische Sopranistin. Sie hatte jahrelang in der Oper gesungen und war auf der Bühne und auf Opernvideos sehr populär. Mit 32 war sie wegen stimmlicher Probleme gezwungen, ihre Karriere aufzugeben. Sie konnte nicht mehr sauber intonieren. Sie zeigte keine Symptome von Hauchigkeit oder eines unfokussierten Tons. Es zeigte sich, dass ihre Kehle verschlossen war und der Kehlkopf sich in einer hohen Position befand. Nach etwa sechs Wochen, begann die Kehle sich zu öffnen. Dabei offenbarte sich die eigentliche Quelle ihrer Probleme. Mit geöffneter Kehle konnte die Sängerin nur einen kleinen verhauchten Ton erzeugen. Ihre alte Technik hatte sie dazu gebracht, ihre Kehle zu verschließen, um den Stimmbandschluss zu erreichen. Das wird häufig als »Singen mit verschlossener Kehle« oder »Singen mit hochgestelltem Kehlkopf« bezeichnet.
Gleich nach der Öffnung der Kehle fügten wir sanfte Stimmbandschluss-Übungen hinzu, um den Umlernprozess abzuschließen. Ich benutzte einige der Übungen, die Dr. Bratt 1916 bei Flagstad angewendet hatte. Das positive Ergebnis zeigte sich bald. Nach nur sechs Wochen dieser Arbeit konnte sie im Sommer darauf zwei Opern-Uraufführungen in Stockholm singen.
Stimmbildungs-Erfahrungen wie diese machte ich häufig. Oft treffe ich Sänger, die jahrelang gesungen haben, ohne zu wissen, wie man ohne Druck auf dem Kehlkopf singt.
Als Flagstad Dr. Gillis Bratt das erste Mal in Stockholm vorsang, bezeichnete er ihre Stimme als Kinderstimme. Ihre Stimmbänder ließen zu viel Atemluft ungenutzt hindurch. Das störte die Resonanz. Bei zwei Stunden Unterricht pro Woche war ihre Stimme nach drei Monaten doppelt so groß geworden (siehe auch: Howard Vogt: Flagstad: Singer of the Century, S. 48.).
Der Stimmbandschluss wird bei Gesangslehrern immer noch kontrovers diskutiert. Viele Lehrer scheinen Angst vor dem Glottis-Schlag zu haben. Dies ist durchaus verständlich. Und doch ist der Glottis-Schlag bei richtiger Atem-Kontrolle durch den Körper fast ausgeschlossen. Manchmal sagte Alan Lindquest: »Lass die Stimmbänder die Vokale sprechen«. Personen mit einer resonanten Stimme sprechen mit gesundem Stimmbandschluss ohne einen hauchigen Klang. Präsident Bill Clinton ist ein perfektes Beispiel für jemanden, der durch hauchige Stimmgebung Stimmermüdung erlitten hat.
Als ich 1979 bei Alan Lindquest studierte, war eines meiner offensichtlichsten Probleme, dass meine Stimmbänder nach der Einatmung nicht richtig schlossen. Mein Körper blieb nicht in aufrechter Haltung geöffnet. Der Körper (Kraftstoff-Tank) muss ohne ein zuviel an Spannung geöffnet bleiben. Nur so sind die Stimmbänder in der richtigen Stellung. Lindquest benutzte verschiedene Wege, um mir beim Erschließen meines wirklichen Potentials zu helfen:
Das Entstehen der Vokale in den Stimmbändern wahrnehmen.
Mit Hilfe der Worte »every orange« einen gesunden Stimmbandschluss spüren.
Durch gesprochenes »huh-oh« den Stimmbandschluss fühlen.
Eine Fünf-Ton-Skala auf »eh, ah, eh, ah…« singen. Der Vokalwechsel wurde so gelehrt, dass dabei kein Atem an den Stimmbändern ungenutzt vorbeiströmte.
Flagstad berichtete, dass sie nach Erlernen des Stimmbandschlusses fast alle Phrasen auf einen Atem singen konnte. Das lag darin begründet, dass ihre Stimmbänder keine Atemluft mehr ungenutzt herausließen; diese Tonqualität benötigte nur einen minimalen und daher gesunden kleinen Atemstrom. Dieser Atemstrom muss konstant fließen. Plötzliche Änderungen des subglottischen Atemdrucks stören die Tonqualität und verringern die Möglichkeiten des Sängers, längere musikalische Phrasen zu singen.
Es muss klar sein, dass der Atem nicht mit der Glottis sondern mit dem Unterstützungs-System des Körpers kontrolliert wird (siehe auch Artikel über Atmung und Stütze). Der Stimmbandschluss dient der Stärkung der Vibrations-Quelle. Die Ton- und Atemkontrolle jedoch werden allein durch das Unterstützungs-System des Körpers reguliert.
Fragen richten Sie bitte an Christian Halseband, mail@gesanglehrer.de (auf deutsch oder englisch) oder an David L. Jones, jones@voiceteacher.com (auf englisch).
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